Willi-Sitte-Galerie Merseburg, 04.02.-23.04.2023

















Michael Hametner
Laudatio auf Christl Maria Göthner und Michael Kunert anläßlich der Eröffnung ihrer Ausstellung WIND OF CHANGE in der Willi-Sitte-Galerie Merseburg (04.02.2023)

Die Gelegenheit, die Ausstellung von zwei Künstlern zu laudatieren, die auf ganz verschiedenen Wegen in der Bildenden Kunst unterwegs sind, verschafft mir die Möglichkeit, über Kunst-Positionen nachzudenken. Es ist ein überaus glückliches Zusammentreffen: hier in der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg den Arbeiten von Christl Maria Göthner und denen von Michael Kunert zu begegnen. Beide haben sie in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert. Christl Göthner ist vor allem geprägt von der Bildsprache Bernhard Heisigs, dessen Meisterschülerin sie war. Michael Kunerts Spuren haben für das heutige Werk sichtbar weniger seine Lehrer gelegt, sondern der große Max Beckmann. - Die sich bei beiden in einer annähernd 40jährigen Kunstentwicklung seit Verlassen der Hochschule herausgebildeten Positionen lassen erkennen, dass Christl Göthner ihre Bilder ganz stark aus der Farbe heraus baut und Michael Kunert über die Figur oder den Gegenstand im Bildraum seine Motive entwickelt. Beides sind in der Kunst oft gegangene Wege, die allerdings in verschiedene Richtungen führen.
Zu den Bildern von Christl Maria Göthner fällt mir ein Satz von Käthe Kollwitz ein, den ich im Kalaog der großen Leipziger Klinger-Ausstellung 2020 gefunden habe. Er lautet: Ich hab als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehn, auf mich wirken zu lassen und nach außen zu stellen. Eine Verbindungslinie von Käthe Kollwitz zu Christl Maria Göthner zu ziehen, mag verwundern, aber das Zitat stellt sie her. (...)
Wir gehen in dieser Ausstellung durch zwei Etagen wie durch zwei sehr wesentliche Varianten künstlerischen Ausdrucks. Auf der ersten, der Göthner-Etage und der zweiten, der Kunert-Etage, erleben zwei mit großem Können ausgeübte künstlerische Bekenntnisse. Ich gehe mit ihnen zunächst durch die erste Etage. Christl Maria Göthner präsentiert uns Werke aus rund 40 Jahren, also gleich vom Abschluß ihres Studiums 1984 an. Wir sehen in den frühesten Bildern noch einen sehr disziplinierten Realismus. Formstreng baut sie ihre Figuren, öffnet dabei aber sehr wohl ihre Individualität. Das Pronomen ihre ist missverständlich zu interpretieren: Meint ihre die Figur, die sie porträtiert oder meint es die Malerin, die im Gegenüber die andere Person sucht und zugleich sich selbst. Hier zeigt sich bei Christl Göthner über die Jahre ihres Schaffens eine deutliche Verschiebung hin zum Ich der Malerin. Es bleibt in den neueren Porträts natürlich immer die Suche nach dem Gegenüber, aber in letzter Konsequenz malt sie das Echo der vor ihr sitzenden Person, das sie in sich empfangen hat. Ich kann es aus eigenem Erleben mit großem Staunen feststellen, da sie mich selbst einmal porträtiert hat. Sie zeigt in dieser Ausstellung nicht das Bild, dass von mir nach den Sitzungen entstanden ist, sondern sie hat mich mit einem neuen Porträt überrascht, das sie nach dem im Atelier-Raum verbliebenen Echo gemalt hat und siehe: Ich fühle mich entdeckt. Entdeckt meint mehr als das Lob für die Ähnlichkeit.
Christl Maria Göthner ist heute eine ganz stark aus dem Fühlen, Spüren, Erahnen heraus arbeitende Künstlerin. Sie sehen beim Gang durch die Ausstellung ihrer Bilder viele Motivgruppen: Blumen- und Gartenbilder, wilde Stadtlandschaften und Porträts, aber vor allem Darstellungen der Bewegung. Beim Blick auf die Angabe des Jahrs der Entstehung erhalten wir einen Einblick in den tiefgreifenden Wandel ihrer Bildsprache. Die Künstlerin kommt von einer sehr formstrengen, manchmal auch kraftbestimmten, ja sogar mit gewissen Anzeichen von Gewalt geprägten Aneignung ihres Gegenstands bzw. Motivs. Das früheste Bild von ihr in dieser Ausstellung ist das Porträt ZAPPA aus dem Jahr 1985. Im Selbstporträt als Akt mit dem Titel IM MOMENT von 1998 kratzt sie mit dem Pinselstil in die aufgetragene Ölfarbe, spachtelt die eine oder andere Passage. Diese bis zur Formverletzung reichende Malweise war ihrem großen Lehrer Bernhard Heisig nicht fremd. Aber das stark von inneren Zuständen abhängige Werk der Künstlerin zeigt sich in Bewegung. Sie gibt die Opposition gegen die Außenwelt langsam auf. Hier spielen auch sicher glückliche persönliche Entwicklungen eine Rolle. Sie selbst wird vom WIND OF CHANGE, dieser Hymne des Wandels der Scorpios, erfaßt und feiert mit den Worten des Dichters Rainer Maria Rilke das Glück des Anfangs, für das – wie es bei Rilke heißt – wenig äußere Veränderung nötig ist, denn (ich zitiere Rilke) wir verändern ja die Welt von unseren Herzen her. So kommt es, dass Christl Maria Göthners Abwehr der Versuch des Annehmens folgt. In der Bildenden Kunst wird der sichtbare Wandel der Ausdrucksweise oft begleitet von einem Wechsel der Technik oder das Malmaterials.
Christl Maria Göthner ersetzt die Ölfarben, für deren Mischen sie Gesundheits- und Umweltbelastendes Terpentin braucht, durch Wasservermalbare Ölfarben. Sie sind in ihrer Wirkung weicher, transparenter und entsprechen jetzt viel stärker ihrer neugefundenen inneren Balance. Sie sehen es ganz deutlich im Bild mit dem Titel AM UFER, das wunderschön zart gesetzt Mohnblumen zeigt. Zu entdecken ist es an ihren Seerosen, es findet sich in Bildern aus jüngster Zeit wie IM FREIEN, IM ROTEN KLEID und der Leinwand LOTOS II, die unmittelbar vor Ausstellungsbeginn fertig geworden ist.Was noch bei den Stadtlandschaften Ende der 90er Jahre mit großer Wildheit auf die Leinwand kam, wirkt jetzt beruhigter. Womit sie die Spannungen auf den Bildern keinesfalls aufhebt. Sie räumt den Farben und Formen eine größere Freiheit gegenüber der künstlerischen Anfangszeit ein. Die feinnuancierten Farbabmischungen ziehen meinen Blick an und veranlassen mich zur Annahme des Ausschnitts der Welt, den sie mir zeigt. Mir scheint, sie bekennt sich in ihrem Werk – Leinwand wie Holzschnitt und Grafik – immer stärker zum Blick einer Frau, einer Künstlerin. Dieser Blick ist in Christl Marias Kunst keinesfalls völlig neu, aber er zeigt sich über die Jahre ausgeprägter, konsquenter, offener.  
Einen besonderen Werkteil bilden ihre Holzschnitte. Die Künstlerin zeigt in dieser Technik eine ganz starke Begabung. Zum einen fällt die außerordentliche Größe vieler ihrer Holzschnitte auf, die sie dazu geführt hat, sie ähnlich einem Leinwand-Bild zu behandeln. Sie verwendet für ein Blatt mehrere Holzstöcke, druckt sie über- und nebeneinander, baut große Formen, collagiert ihre Arbeiten auch mit Linoleumschnitten, stimmt die Farben – jede Farbe ist ein eigener Druckvorgang – auf ein Gesamtbild ab. Sie können es sehr gut auf dem hier im Foyer präsentierten Blatt mit dem Titel TREPPE nachvollziehen: mit den rechteckigen Holzstöcken baut sie gewissermaßen eine Treppe und setzt davor in roten Umrisslinien, die sie aus einem Bodenbelag geschnitten hat, eine nach vorn gebeugte Figur: eine Tänzerin. In der gefundenen Stilisierung zeigt das Blatt eine besondere abstrakte Qualität.
Ich kann ihre Holzschnitte gar nicht genug rühmen. Sie zeigen sich vielfach zwei Themen verpflichtet. Wie wir schon gesehen haben, ist eines der Tanz und das andere die Musik als Schwester-Kunst. Wie die Künstlerin die Bewegung aus dem Holz herausholt, beeindruckt mich. Als Beispiel verweise ich auf ein anderes Blatt (oben in der Ausstellung): Eine unendliche Kette von Autos, die den Verkehr zum Stehen bringt, überrollt das Papier. Im Vordergund wird das Motiv von einer nahezu formatfüllenden, tanzenden Figur mit für ihre Drehungen hochgerissenen Armen überlagert.Tanz ist auf den Holzschnitten von Christl Mari Göthner, bei denen es sich fast durchweg um Unikate handelt, ein wiederkehrendes Thema. Musik ist ein anderes wiederkehrendes Thema. Sie hat es noch intensiviert, seit sie mit dem Pianisten Stephan König zusammenlebt und seit dem vergangenen Jahr auch verheiratet ist. Die Bewegung in ihrem eigenen Leben ist als Wind of Change in ihre Holzschnitte eingezogen. Ihre besondere Art der Mischung aus Ornament, Linie und Figur überfordern die Gleichniskraft der Motive nicht, es bleibt Raum für Spielerisches. Gleichzeitig schafft sie es, jedem Blatt in der Umsetzung von Bewegung eine erstaunliche formale Dichte zu geben. Hier warten Entdeckungen auf die Betrachter.Nicht vergessen möchte ich einen Hinweis auf ihre Lithographien. Etwa die ihrer verstorbenen Schwester BÄRBEL gewidmete Mappe. Die überaus zarten Linien dieser Blätter sind als beeindruckender Ausdruck eines stillen Schmerzes zu lesen. Angesicht der Fülle ihrer Leinwände und großen Holzschnitte möchte ich auf eine kleine Lithografie hinweisen, die mir zeigt, wie bei der Künstlerin jede Arbeit mit besonderer emotionaler und handwerklicher Zuwendung entstanden ist: ein Frauenakt, dessen pastellige Farben eine Einheit bilden zum Ausdruck des Körpers. Dieses Blatt mit dem Titel DUSCHE ist 1995 entstanden.
(...)
Freuen wir uns an den Bildern, die Christl Maria Göthner und Michael Kunert hier in der Willi-Sitte-Galerie präsentieren. Dafür geht der Dank auch an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Galerie. Für beide Künstler ist ein Satz zutreffend, der sie verbindet: Ich suche und erfinde die Welt, in der Hoffnung, sie zu verstehen. - Dafür ist Christl Maria Göthner und Michael Kunert zu danken.
Merseburg, 04.02.2023, Michael Hametner





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